Trauerort Friedhof
Muss ich immer zum Friedhof gehen? Wie oft sollte ich zum Friedhof gehen? Diese Fragen habe ich mir oft gestellt. Muss man auf den Friedhof gehen, um (wem auch immer) sichtbar zu machen, dass man trauert? Und muss man dann bei jedem Besuch etwas mitbringen und auf’s Grab legen? Eine Kerze, eine Blume? Diese Fragen beschäftigten mich, als ich mir selbst noch nicht sicher war, was die Friedhofsbesuche mir eigentlich bedeuten. Die Antwort muss natürlich lauten: Nein, man muss nicht zum Friedhof gehen, wenn man das nicht möchte. Man darf für sich selbst entscheiden, was einem guttut.
Der Friedhofsbesuch als Aufgabe und Trost zugleich
Ich kenne viele ältere Menschen, die ihren langjährigen Partner oder ihre langjährige Partnerin verloren haben. Die meisten gehen gern zum Friedhof. Sie haben den Friedhofsbesuch fest in ihren Tages- oder Wochenrhythmus eingebaut. Sie halten sich fest an der Routine, die ihnen guttut. Sie schuffeln hier, pflanzen dort und halten ein Pläuschchen mit anderen Friedhofsbesuchern. Viele Friedhofsbesucher gehen immer zurselben Zeit auf den Friedhof und begegnen sich regelmäßig. Es fällt ihnen sogar auf, wenn eine:r mal nicht kommt. Eine Dame sagte mir, sie fühle sich bei jedem Friedhosbesuch verbunden mit ihrem verstorbenen Mann. Während sie die drei Blätter Laub aufsammelt, erzählt sie ihm in einem stillen Monolog, was am Tag alles passiert ist, lässt ihn teilhaben an ihren Gedanken. Wenn es ihr einmal körperlich nicht gutgeht und sie nicht zum Friedhof gehen kann, vermisst sie das schmerzlich. Der Friedhofsbesuch ist eine Konstante in ihrem Leben, die sie nicht missen möchte.
Mein Schwiegervater hat bis zu seinem eigenen Tod das Grab seiner Frau und das Grab meines Mannes voller Hingabe gepflegt. Oft hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen, bis ich verstand, was es ihm selbst bedeutet: Es tröstete ihn, seiner Frau und seinem Sohn schöne Blumen zu bringen, die Pflanzen zu hegen und zu pflegen. Er wollte sich kümmern, solange er selbst es konnte. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, das aufzugeben. Ich war ihm so dankbar, denn zusätzlich zu allem anderen wäre die Grabpflege eine Belastung für mich gewesen. So durfte ich mich freuen, dass das Grab so liebevoll gepflegt wurde.
Trauerorte sind zutiefst individuell
Ich bin kein Friedhofsgänger. Als mein Mann starb, war ich so sehr eingebunden mit den beiden kleinen Kindern (drei und sechs) und meinem Job, dass ich kaum Zeit hatte, überhaupt mal in Ruhe dorthin zu gehen. Zu Beginn habe ich immer wieder versucht, mir ein paar Minuten zu stehlen, um das Grab zu besuchen. Doch ich spürte zunehmend, dass mir die Besuche nicht helfen. Vor meinem geistigen Auge sah ich nicht meinen lebendigen und liebevollen Mann, sondern immer nur den Sarg, wie er bei der Beerdigung hinabgelassen wurde. Ich kam nie an den Punkt, dass ich am Grab einen inneren Dialog mit meinem Mann führte. Ich habe es oft versucht, aber es klang für mich selbst unecht. Der Ort Friedhof war mir nie ein tröstender oder verbindender Ort. Und nach einer gewissen Zeit habe ich das für mich akzeptiert. Heute gehe ich unregelmäßig dorthin. Es gibt Zeiten, da schaue ich öfter dort vorbei, es vergehen aber auch schon einmal Wochen, in denen ich nicht ein einziges Mal dort war.
Wir alle haben unsere eigenen Orte, Zeiten und Begegnungen, die uns in Verbindung bringen mit unseren Verstorbenen. Wo das ist, wann das ist, liegt allein in unserer Hand und in unserem Ermessen. Es muss zu uns passen und vor allem: Es ist immer ok! Und wenn im Inneren eine Stimme zu dir sagt: “Du musst mal wieder hin, wie sieht das denn sonst aus” oder “Du bist eine schlechte Witwe, wenn du dort nicht öfter hingehst” - dann frage dich: Würdest du diese Sätze auch zu deiner besten Freundin sagen, wenn sie in deiner Situation wäre? Ich denke, und hoffe, nicht. Du weißt, was dir guttut - lass es zu und sei gut zu dir selbst <3