Sehnsuchtsorte

Es gibt einen Ort, an dem ich mehrmals im Jahr sein muss, um gut durch die Zeit zu kommen: das Meer. Es ist nicht einmal so, dass ich das Meer oder bestimmte Orte am Meer mit meinem Mann verbinde. Als Jörg noch lebte und auch bevor ich ihn kennenlernte war ich immer sehr gerne und oft am Meer, aber seine tiefe und zentrale Bedeutung hat das Meer für mich erst erhalten, seit ich trauere.

In Verbindung mit mir sein

Das Meer ist der Ort, an dem ich am meisten mit mir in Verbindung bin. Wenn ich an der Wasserkante stehe, rückt zunächst alles in den Hintergrund - die Geräusche der Wellen und der Wind sind so einnehmend, dass alles andere daneben ganz leise wird. Auch meine lautesten Gedanken schrecken erst einmal zurück und schauen mit mir auf das Treiben der Wellen, die Gischt, die stetige Bewegung, das unglaubliche Durcheinander auf See. Vielleicht ist es auch das: Auf See sieht alles noch chaotischer aus, als manchmal in meinem Kopf.

So einnehmend wirkt das Meer auch auf meine Kinder. Schon früh rannten sie an der Wasserkante entlang, setzten sich in den Sand und buddelten vor sich hin. Blieben bei sich für unglaublich wertvolle Minuten, die ich dann für mich allein hatte. Ganz oft löst sich in diesen Momenten die Anspannung der vergangenen Wochen und Monate und Tränen fließen. Einfach so.

Ruhe und Leichtigkeit durch Tränen und Schmerz

Das Meer ist heilsam für mich. Es potenziert all meine Gefühle. Glück und Traurigkeit, Einsamkeit und Erfüllung - alles fühlt sich doppelt leicht oder doppelt schwer an. Als ich das erkannte, traute ich mich eine zeitlang nicht, alleine am Strand entlang zu laufen. Ich hatte Angst, in Tränen auszubrechen - und was sollten dann die anderen Spaziergänger denken? Außerdem wollte ich doch Ruhe und Leichtigkeit in meinem Urlaub am Meer, nicht Schwere und Traurer. Eines Tages begriff ich aber, dass es genau das war, was mir Ruhe und Leichtigkeit brachte. Weinen, wenn ich es nunmal musste. Tränen laufen lassen, laut schluchzen im Getöse der Brandung. Niemand hört es, niemand sieht es. Und wenn doch: Was ist daran schlimm? Ich glaube ohnehin, dass es vielen Menschen ähnlich geht am Meer. Und danach kommt sie, die Leichtigkeit. Eine körperliche Schwere und Müdigkeit, gepaart mit Erleichterung und einem Gefühl von Wärme in der Brust.

Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass Natur fast immer eine große Wirkung auf Menschen hat. Für manche sind es die Berge, unendliche Felder, Wälder, Seen, Wüste oder eben das Meer. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns für kurze Zeit eingebunden fühlen in etwas, das größer ist als wir. Das Platz hat für unsere Trauer, das Trauer als Teil von etwas Natürlichem betrachtet. In der Natur müssen wir uns nicht zurücknehmen und können sein, wie wir wollen, ungeschminkt und pur.

Ort des Friedens

Am Meer bin ich mir selbst so nah, wie sonst fast nirgends. Das braucht auch Mut, denn es kommt vieles hoch. Auch heute noch spüre ich meine Traurigkeit, wenn ich an der Wasserkante stehe und den Wellen zuhöre. Meine Trauer über nicht gelebte gemeinsame Jahre, den nicht gelebten gemeinsamen Traum, die nicht gemeinsam erlebten wunderschönen Momente mit unseren Töchtern. Heute spüre ich aber auch Dankbarkeit, dass ich alles so annehmen kann. Dass ich erkenne, dass meine Trauer nichts anderes ist als Liebe, die bleibt.

Ich wünsche dir auch solche Orte. An denen du bei dir bist, dich traust, dir selbst nah zu sein. Mit all deiner Trauer und deiner Einsamkeit. Und dass du dort erkennst, dass diese Gefühle dich lebendig machen. Dass deine Erinnerungen dich tragen und dir Kraft schenken für alles, was noch kommt.

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Die Reaktion der anderen