Wenn die Erinnerung verblasst

Der Tod meines Mannes ist bereits fast zehn Jahre her. Der Tod meines Vaters genau zehn, der Tod meiner Mutter über 20 Jahre. Ich muss sagen, die Erinnerungen an meine Eltern sind rar und nicht mehr sehr tief. Ich führe es darauf zurück, dass mein Leben in all den Jahren seither sehr voll, durchgetaktet und intensiv war. Erinnerungen brauchen Raum, Muße und Offenheit.

Die Erinnerung an meinen Mann hingegen ist immer recht stark gewesen. Viele Jahre konnte ich einen inneren Dialog mit ihm führen – vor allem, wenn es um Entscheidungen bezüglich unserer Kinder ging, z. B. Schulauswahl, Regeln in der beginnenden Pubertät, was tun bei Krankheiten. Das ist immer noch so, obwohl ich nach zehn Jahren natürlich nur mutmaßen kann, was mein Mann sagen oder tun würde. Dennoch kannte ich ihn so gut, seine Wertvorstellungen, seine Haltung – ich bin mir ziemlich sicher, die größten Entscheidungen mit Blick auf unsere Kinder auch in seinem Sinne zu treffen.

Die spürbare Nähe wird weniger

Was aber weniger wird ist die spürbare Nähe. Während ich im ersten Jahr nach seinem Tod fast körperliche Schwingungen wahrgenommen habe, spüre ich heute nur noch selten seine Präsenz. Je nachdem, wie tief ich mich auf die Trauer einlasse - die immer noch da ist, in ganz bestimmten Momenten. Dass ich ihn nicht mehr so präsent habe, macht mich manchmal sehr traurig.

Erlebnisse ohne den anderen

Vielleicht liegt es daran, dass wir gerade nach dem Tod von geliebten Menschen, die eine große Lücke hinterlassen, zunächst einmal auf uns selbst zurückgeworfen sind. Dieses Leben nach dem Tod des anderen fordert uns sehr heraus. Neue Routinen müssen aufgebaut werden, Entscheidungen allein getroffen und Wege allein gegangen werden. Das setzt einerseits Energien frei, die wir vielleicht sonst nie erlebt hätten. Andererseits verändert es uns auch. Vielleicht sind wir stärker geworden, vielleicht haben wir „zu uns selbst“ gefunden, vielleicht verharren wir aber auch in tiefer Trauer und finden (noch) keinen Weg in ein glückliches Leben nach dem Verlust. Das braucht Zeit und es braucht Geduld. Geduld mit uns selbst. Bei vielen Menschen reißt der spürbare Kontakt zum verlorenen Menschen nicht ab und sie bleiben noch ein wenig in diesem Raum, der festhält an dem Leben vor dem Verlust, der mit dem Verstand nicht zu erklären ist.

Lässt die eigene Entwicklung die Erinnerung verschwimmen?

Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn mein Mann und ich uns heute wiederbegegnen würden. Ich bin definitiv eine andere als damals. Würden wir noch zusammenpassen? Wie wäre das? Ich habe mich sehr verändert. Habe zu mir gefunden, meine Werte entdeckt und benannt, Selbstbewusstsein aufgebaut und bin total unabhängig geworden. Das war ein steiniger Weg, viele Kurven, aber auch sehr schöne Ausblicke. Meinen Mann hatte ich immer dabei. Mal mehr, mal weniger präsent. Heute ist das Bild verblasst, verschwommen. Ich glaube manchmal, dass meine eigene Entwicklung die Erinnerung verschwimmen lässt, als ob nur mein “altes Ich” mit meinem Mann verbunden war. Andererseits: Woher will ich wissen, dass das Bild nicht wieder klar wird? Hinter der nächsten Kurve auf meinem Weg? Insgeheim glaube ich daran, dass unsere Seelen sich genau dort begegnen würden, wo sie sich damals schon füreinander entschieden haben. Dass dieses Urgefühl nicht weg wäre. Und das tröstet mich.

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