Wenn Funktionieren krank macht
Sich nach einem Todesfall ins Tun zu stürzen, sich viel zu beschäftigen und möglichst aktiv zu sein ist für viele Trauernde hilfreich. Was passiert aber, wenn wir dabei nicht richtig und bewusst trauern? Wenn wir die Trauer unter dem Deckel halten? Wenn wir dauerhaft so sehr eingespannt sind, dass uns schlicht und ergreifend die Zeit fehlt? Oder wenn wir Angst haben, in uns zusammenzubrechen, wenn wir sie zulassen? Wenn wir also die Trauer wie einen ungeöffneten schweren Rucksack mit uns herumschleppen, während wir dem “ganz normalen Alltag” nachgehen und stur eine Aufgabe nach der anderen abarbeiten?
Im Ausnahmezustand
In den ersten Wochen nach der Beerdigung meines Mannes war ich im Ausnahmezustand - ich lief auf Autopilot. Meine noch kleinen Kinder nahmen mich ganz ein. Die Ältere war gerade erst in die Schule gekommen, die Jüngere gerade in den Kindergarten. Neben dem ohnehin schon wuseligen Alltag mit kleinen Kindern kam dann noch das ganze Organisatorische hinzu. Das war gar nicht so einfach. Wir hatten schon während der Krankheitsphase meines Mannes versucht, so viel wie möglich zu regeln, aber natürlich wussten wir zu dem Zeitpunkt gar nicht, was alles auf mich zukommen wird. Ich musste Anträge stellen, Versicherungen kontaktieren, meinen Mann überall abmelden. Das war ein Angang und es fiel mir zunächst schwer. Mein Tipp an dieser Stelle: Am besten mit dem anfangen, womit man sich zumindest ein wenig auskennt oder man wenig Berührungsängste hat. Dann ergeben sich die notwendigen nächsten Schritte von allein. Ich habe in dieser Zeit glücklicherweise viel gute Erfahrungen mit Ämtern und Versicherungen, Banken usw. gemacht. Mein Eindruck war, dass sich alle sehr bemühen, wenn jemand anruft, der gerade einen Menschen verloren hat. Ich habe mich nicht gescheut, so lange meine Fragen zu stellen, bis ich alles verstanden hatte. Denn so richtig aufnahmefähig war ich in den ersten Wochen gar nicht. Es war einfach viel zu viel. Eines nach dem anderen, Stück für Stück arbeitete ich mich vor.
Der “ganz normale” Wahnsinn
Danach stieg ich wieder in meinen Job als Beraterin in einer Agentur ein. Fünf Tage die Woche, 30 Stunden. Das war der Wahnsinn, aber es ging ja nicht anders. Mein Problem: Um Hilfe bitten fiel mir einfach unglaublich schwer. Ich habe den besten Freundeskreis, aber ich konnte so schlecht um Hilfe bitten. Ich wollte alles schaffen, allein. Wollte niemandem zur Last fallen, die anderen hatten mit ihrem Alltag doch auch genug um die Ohren. Außerdem war ich auf diese Weise ausreichend beschäftigt, um mich nicht mit meiner Trauer auseinanderzusetzen. Und so kämpfte ich mich durch die Tage und Wochen. Morgens beide Kinder fertig machen, die Kleine in den Kindergarten bringen. Dann schnell zur Arbeit, 40 Kilometer Fahrt, höllischer Berufsverkehr. Wenn ich nachmittags dann wieder im Stau stand, schweißgebadet, mit rasendem Herzen, weil ich es vermutlich nicht pünktlich zu Kindergarten und Schule schaffen würde, sprang mein lieber Schwiegervater ein. Er stand immer auf Abruf, brachte meine Töchter nach Hause und wartete gemeinsam mit ihnen auf mich. Er war als mein engstes Familienmitglied der einzige, bei dem es mir nicht schwer fiel, um einen Gefallen zu bitten. Danach begann dann der Rest des Tages mit meinen Kindern, Haushalt, Erledigungen, das Übliche. Abends ab 21 Uhr dann Ruhe. Erschöpfung auf der Couch.
Einen Gang runterschalten
Nach einigen Monaten vergaß ich Dinge. Erst Wörter, dann Uhrzeiten. Stand im Supermarkt und wusste nicht mehr, was ich kaufen wollte, den Zettel hatte ich natürlich auch nirgends. Dann vergaß ich meine Adresse. Als mich ein Polizist nach einem kleinen Verkehrsunfall nach meiner Adresse fragte, konnte ich sie ihm nicht nennen! Den Weg nach Hause kannte ich noch, aber für den Straßennamen musste ich mich sehr konzentrieren. Als ich dann nach einem Sekundenschlaf auf einer Landstraße mit dem Auto in einen Graben fuhr wusste ich, dass ich etwas ändern musste. Ich war einfach am Ende meiner Kräfte. Ich ging zum Arzt und er schrieb mich für drei Wochen krank. Eine Woche lang saß ich jeden Vormittag, wenn die Kinder nicht da waren, auf der Couch und starrte nach draußen. Sonst nichts. Sitzen und Hinausstarren. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Die Erschöpfung übermannte mich. In der zweiten Woche vermischte sie sich mit der Trauer, die ich so lange unter dem Deckel gehalten hatte. Ich war untröstlich. Ab der dritten Woche begann ich, nach Lösungen zu suchen. Da war mein Mann bereits seit sieben Monaten nicht mehr da.
Was kann ich für mich selbst tun?
Letztendlich habe ich mit meinem Arbeitgeber eine geringere Stundenzahl vereinbart - gerade so viel, dass es inklusive der Witwen- und Waisenrenten für uns drei ausreichte. Ich fasste mir ein Herz und fragte eine liebe Nachbarin, ob sie einmal pro Woche meine Kinder nachmittags von 16 bis 19 Uhr nimmt. Sie hat sie von Kindergarten und Schule abgeholt, mit ihnen gespielt, mit ihnen zu Abend gegessen und sie dann nach Hause gebracht. Der Deal: Ich selbst mache in dieser Zeit etwas nur für mich. Keine Haushaltstätigkeiten, nicht noch schnell dies oder das. Nein, drei Stunden nach der Arbeit nur für mich. Am Anfang war das gar nicht so einfach, denn ich wusste nicht mal mehr, was ich gerne machen würde. So saß ich manchmal einfach nur am Feldrand und beobachtete die Leute, oder ich setzte mich an den Rhein. Ich fing wieder an zu singen. Ich traf einen alten Musikerkollegen wieder und er kam ein mal pro Woche abends mit seiner Gitarre zu mir. Wir musizierten im Wohnzimmer und ich musste keinen Babysitter bestellen.
Das Prinzip dahinter lautete: Energietankstellen finden und nutzen. Was tut mir gut? Was würde mir helfen? Was muss ich dafür tun, damit es möglich ist? Und immer wieder das Mantra: Wenn es mir als Mutter gut geht, geht es auch den Kindern gut. Selbstfürsorge - so schwer! Aber ich habe gelernt, dass man das üben kann.
Die Trauer ist da - ob wir wollen oder nicht
Und die Trauer? Sie kam jeden Abend und jede Nacht. Dann eine Zeit lang in jeder freien Minute. Dann an sehr komischen Orten, wie zum Beispiel an der Supermarktkasse, an der Tankstelle, in einer Veranstaltung. Zu Beginn mochte ich sie nicht. Überhaupt nicht. Sie fühlte sich kalt und fremd an. Unfreundlich. Sie drückte sich auf meine Brust und machte mir das Atmen schwer. Ich wollte sie nicht haben. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an sie. Aber bis ich meinen Frieden mit ihr machen konnte, sollte es noch einige Jahre dauern.